Medizin heute

Hilfe zur Selbsthilfe

Von unserer Redakteurin Renate Dilchert Wer im Freundes- oder Kollegenkreis über ein fieses Ziehen im Kreuz berichtet, findet sofort Gesprächspartner, die aus eigener, leidvoller Erfahrung schöpfen. Denn gerade der einfache Rückenschmerz ohne nachweisbare Ursache ist ein Volksleiden – und er ist tückisch. Denn schnell können die Beschwerden chronisch werden. Wichig ist, sich dem Schmerz nicht zu ergeben, sagt der Physiotherapeut Volker Sutor. Denn der individuelle Umgang mit den Beschwerden hat erheblichen Einfluss auf ihren Verlauf.Warum haben es so viele Menschen im Kreuz?Volker Sutor: In der Forschung wird von mehr als 200 Faktoren gesprochen, die das Ganze beeinflussen können. Auch die Genetik spielt eine Rolle, grundsätzlich geht man von einem bio-psycho-sozialen Konzept aus. Das Problem hier in Deutschland ist das mechanische Denken: Ich habe mich verhoben, also habe ich Schmerzen. Aber das ist niemals der alleinige Grund. Es ist erstaunlich, wie falsch dieses Thema in der populärwissenschaftlichen Literatur abgehandelt wird.Wie entstehen Rückenschmerzen?Sutor: Nur zehn bis maximal 20 Prozent der Rückenschmerzen sind spezifisch – mit neurologischen Symptomen, Frakturen, Tumoren oder Rheuma. Sie sind hochkritisch und müssen adäquat behandelt werden. Man weiß aber, dass die meisten Rückenschmerzen innerhalb weniger Wochen verschwinden. Das nennen wir den einfachen, unspezifischen und nicht komplizierten Rückenschmerz, der 80 bis 90 Prozent der Fälle ausmacht. Es gibt darunter aber eine Gruppe – und die wird größer – von Leuten, die aufgrund falschen Umgangs mit den Schmerzen und falscher Behandlung in die Chronifizierung abdriften. Das sind die, die ganz schwierig zu behandeln sind und die tatsächlich lange und schwere Beschwerden haben, auch wenn der Schaden selbst nicht quantifizierbar ist.Also ist alles Kopfsache?Sutor: Jeder Schmerz ist real, keine Einbildung. Aber die Größe des Schmerzes sagt nicht immer etwas über die Größe des Schadens aus. Nicht die Größe des Schadens, sondern die Frage „wie gehe ich mit dem Schmerz um?“ scheint ein entscheidender Faktor für den Verlauf zu sein.  

Den Schmerz selbst aktiv angehen: Wenn der Rücken weh tut, ist Bewegung meist das bessere Konzept

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Ein Hexenschuss kommt plötzlich und kann sehr schmerzhaft sein. Die Beschwerden sind aber in der Regel harmlos. Foto: Leonid/stock.adobe.com

Aber Schmerzen sind doch gemeinhin ein Warnsignal des Körpers?

Sutor: Das stimmt in der akuten Phase. Aber je länger sie einen Schmerz haben oder je häufiger er wiederkehrt, desto geringer ist der Zusammenhang mit dem Schaden. Der Schmerz ist real, aber er ist nicht mehr adäquat.

Sie raten Betroffenen, sich zu bewegen. Wo ist denn dabei die Schmerzgrenze?

Sutor: Der akute Patient, der keine gefährliche Erkrankung hat, muss sich rational am Schmerz orientieren, das heißt alles machen, was irgend möglich ist. Im Bett zu bleiben, ist keine Option. Mittlerweile wird sogar empfohlen, die Betroffenen nur noch in ausgewählten Fällen krankzuschreiben. Wichtig ist ein Wechsel der Belastungen: ein bisschen sitzen, ein bisschen stehen, gehen, strecken, beugen – dann sollte es besser werden und dann sollten sie sich nach und nach wieder mehr bewegen. Es gibt keine Verbote.

Gilt das für jeden Rückenpatienten?

Sutor: Es gibt Ausnahmen: wenn neurologische Beschwerden im Spiel sind, Taubheit, Kraftverlust, Gleichgewichtsstörung, Ausstrahlung ins Bein – die muss man sofort abklären, da muss ein Fachmann entscheiden, was zu tun ist.

Kann man Rückenschmerzen dauerhaft vorbeugen?

Sutor: Wer einmal Rückenschmerzen bekommt, bekommt meistens auch mehrmals Rückenschmerzen. Was der Patient lernen muss, ist: Wie gehe ich damit um? Und dass er derjenige ist, der eine Handlungsgewalt erhält. Die Leute, die eine eigene Lösung finden, haben die besseren Ergebnisse als die, die nur passiv rumliegen. Ziel auch der Physiotherapie muss sein, dass die Patienten selber Ideen bekommen, was sie aktiv tun können, anstatt sich dem Schmerz zu ergeben.

Welcher Aufwand ist erforderlich?

Sutor: Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt wöchentlich mindestens 150 Minuten Ausdauertraining bei niedriger oder 75 Minuten bei hoher Intensität und zweimal Krafttraining. Das sind 20 Minuten am Tag, die man minimum in seine Gesundheit investieren sollte. Und das gilt auch für Rückentraining. Es geht grundsätzlich um Bewegung. Jede Minute, die Sie sich bewegen, gibt Ihnen rund sechs Minuten mehr Lebensdauer.

Sie empfehlen Übungen für Beweglichkeit und für Kraft. Was ist wichtiger?

Sutor: Grundsätzlich scheint die Kraftkomponente die wichtigere zu sein. Denn es gibt einen deutlicheren Zusammenhang von Rückenschmerzen mit Muskelmasse. Ein professionell geplantes Krafttraining kann immer auch die Beweglichkeit verbessern.

Über welchen Zeitraum sollte das Training durchgeführt werden?

Sutor: Training ist ein permanenter Prozess. Effektiv ist, regelmäßig etwas zu tun. Die Motivationen dafür sind höchst unterschiedlich, da muss man die Leute individuell packen.

Wie schafft man es, langfristig dran zu bleiben?

Sutor: Da habe ich keine Pauschallösung. Der Mensch ist sehr effektiv, wenn es darum geht, möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Deswegen hat er meist keine Lust, sich zu bewegen, wenn es eine Möglichkeit gibt, dies zu vermeiden. Entwicklungspsychologisch ist das völlig logisch.

Wir müssen also unsere Instinkte überlisten?

Sutor: Ich kann es voll verstehen, dass manche Leute im Training erstmal keinen echten Gewinn für sich sehen. Seien wir doch mal ehrlich: Sportliche Bewegung macht nicht jedem und immer Spaß. Ein Tipp ist: Kontinuität reinbekommen, ähnlich wie beim Zähneputzen. Wenn Sie nicht mehr darüber nachdenken, dann haben Sie es geschafft.
  

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Volker Sutor ist Physiotherapeut mit Praxen in Brackenheim, Heilbronn und Neckarsulm. Das Thema Rücken liegt ihm besonders am Herzen. In Zusammenarbeit mit dem Physiotherapeuten Tim Bumb ist deshalb das Büchlein „Der kleine Rücken-Coach“ (Trias-Verlag, 12,99 Euro) entstanden, das Betroffenen helfen soll, ihren Schmerz durch sinnvolle Aktivität und Training selbst unter Kontrolle zu bringen. ate







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